In diesem Blogartikel erfährst du, wie es in Beziehungen zu einer emotionalen Entfremdung kommt und welche konkreten Schritte du unternehmen kannst, um wieder mehr Nähe und Verbindung zu schaffen.
Hintergrundwissen: Soziale Zugehörigkeit als Überlebensgarant
Aus anthropologischer Sicht sind wir Menschen zutiefst soziale Wesen, die seit jeher in Gruppen zusammengelebt haben. Diese Gruppen boten Schutz und Unterstützung, die für unser Überleben unverzichtbar waren. Ein Individuum, das aus einer Gruppe ausgeschlossen wurde, war nahezu unweigerlich dem Tod geweiht – sei es durch Hunger, Kälte oder Angriffe durch Raubtiere.
Diese Abhängigkeit des Einzelnen von seiner Gruppe findet ihren Ausdruck nicht nur in kulturellen Praktiken, wie dem Zusammenleben im Familienverbund, sondern ist auch in der Organisation unseres Gehirns und unseren Genen verankert. Studien, welche die Hirnaktivität mittels fMRT untersucht haben, bestätigen zudem, was im Volksmund längst bekannt ist: Emotionale und körperliche Schmerzen aktivieren dieselben Hirnareale (Mahlberg, K. 2011). Sozialer Ausschluss versetzt den gesamten Organismus in einen Stresszustand, der sich überwältigend anfühlen kann.
Ursachen: Das gestresste Hirn
Wenn unser Gehirn in den oben erwähnten Stressmodus verfällt, wird es schwerer, rational zu denken und konstruktiv zu handeln. Stattdessen reagieren Menschen je nach Temperament und Situation entweder impulsiv-angreifend – beispielsweise durch Vorwürfe oder Anschreien – oder mit Rückzug und Mauern, etwa durch eisiges Schweigen oder die Vermeidung von Blickkontakt. Diese Reaktionen verstärken den Stress des Gegenübers, da sie die Bindung zum anderen weiter gefährden und somit Bindungsängste aktivieren.
Machtlosigkeit und Leere
Diese Dynamik kann relativ schnell ein Eigenleben entwickeln. Bildlich gesprochen interagieren hier nicht mehr zwei vernünftige und in sich ruhende Erwachsene miteinander, sondern zwei gestresste Gehirne im Notmodus. Die Stressreaktionen des einen Partners befeuern die ungünstigen Stressreaktionen des anderen. Im Laufe der Zeit – über Stunden, Monate oder sogar Jahre hinweg – werden beide Partner immer wütender, fühlen sich machtloser, leerer und einsamer. Weil sich beide Partner in dieser Dynamik zunehmend emotional unsicher fühlen und Schwierigkeiten haben, ihre Bedürfnisse und Gefühle direkt anzusprechen, greifen sie häufig auf dysfunktionale Verhaltensweisen zurück.
Typische Formen negativer Interaktionsspiralen
Diese finden ihren Ausdruck typischerweise in einem der drei häufigsten ungünstigen Interaktionsmuster:
Die Verfolger-Rückzugs-Dynamik
Mechanismus: Angriff vs. Rückzug
Dies ist die häufigste Form eines negativen Kreislaufs. Hier versucht ein Partner, der „Verfolger“, durch mehr emotionale Nähe Verbindung herzustellen, während der andere Partner, der „Rückzügler“, versucht, Emotionen zu vermeiden, um die Beziehung stabil zu halten. Der Verfolger könnte beispielsweise durch Kritik oder Sarkasmus Aufmerksamkeit erregen, was den Rückzügler dazu bringt, sich weiter zurückzuziehen, um eine Eskalation zu vermeiden. Dies verstärkt die Ängste beider Partner: Der Verfolger fühlt sich ignoriert und unerwünscht, während der Rückzügler Angst vor emotionaler Überforderung hat.
Die Streithahn-Dynamik
Mechanismus: Angriff vs. Angriff
In diesem Kreislauf versuchen beide Partner, durch verstärkte emotionale Intensität Kontrolle über die Beziehung zu erlangen. Sie fühlen sich emotional verletzt und greifen zu Vorwürfen und Angriffen, um sich selbst zu schützen. Beide Partner sind der Meinung, dass die Beziehung unsicher ist, und anstatt sich verletzlich zu zeigen, entscheiden sie sich für eine offensive Haltung. Dies führt dazu, dass die Konflikte eskalieren und beide sich immer mehr von der emotionalen Sicherheit entfernen.
Die Schneckenhaus-Dynamik
Mechanismus: Rückzug vs. Rückzug
In dieser Dynamik ziehen sich beide Partner emotional zurück, um sich selbst zu schützen. Sie bringen bewusst kaum Emotionen zum Ausdruck, weil sie glauben, dass diese zu Konflikten führen könnten. Beide Partner vermeiden es, ihre Gefühle zu zeigen oder emotionale Nähe zu suchen, was zu einer zunehmenden emotionalen Distanz führt. Diese Art von Kreislauf endet oft in einem Zustand der emotionalen Leere, in dem beide Partner zwar physisch präsent, aber emotional nicht mehr verbunden sind.
Realistische Ziele setzen
Diese negativen Interaktionsspiralen sind eine Form sich selbst verstärkender Kommunikationsstörungen, die aus der Angst vor emotionaler Verletzung entstehen. Die Partner sind in einem Teufelskreis gefangen, in dem ihre Versuche, sich zu schützen, das Gefühl der Unsicherheit und des Schmerzes nur noch verstärken. Ohne bewusste Anstrengung zur Veränderung dieser Muster kann der negative Kreislauf langfristig die Beziehung zerstören.
Zugleich sind diese Interaktionsmuster ein normales Phänomen in jeder Beziehung. Das Ziel ist es daher nicht, sie gänzlich zu verhindern, sondern einen Umgang miteinander zu erlernen, der dazu führt, dass diese Muster seltener auftreten und – im Falle ihres Auftretens – schneller beendet werden, sodass sie keine zerstörerische Schlagkraft entfalten können.
Was du tun kannst: Konkrete Maßnahmen gegen emotionale Entfremdung
- Erlerne wertschätzende und wohlwollende Verhaltensweisen und wende diese konsequent an.
Beispiele: Bedanke dich auch für Kleinigkeiten bei deinem Partner. Begrüße und verabschiede dich mit Blickkontakt und sei dabei aufmerksam. Tue deinem Partner täglich kleine Gefallen.
Anfangs mag sich das sehr gestellt und gewollt anfühlen. Je mehr ihr das übt und anwendet, desto schneller wird das zu eurer neuen Normalität und einer Gewohnheit. - Wähle bei (angebrachter) Kritik einen sanften Einstieg ins Gespräch.
Beispiel: Anstatt „Hier sieht es immer aus wie in einem Saustall, wenn ich nach Hause komme“, sage lieber: „Ich würde gerne mit dir über etwas sprechen, was für mich ganz wichtig wäre. Passt es dir gerade?“ - Übe, deinem Partner in einer wohlwollenden Haltung zu begegnen.
Eine wohlwollende Haltung bedeutet, dass meine „Werkseinstellung“ gegenüber meinem Partner ist, dass er oder sie es gut mit mir meint und im Grunde ein feiner Mensch ist. Interpretiere das, was er oder sie sagt, zu seinem oder ihrem Gunsten und verfalle nicht direkt in Unterstellungen und Verdächtigungen. - Lernt beide, eure negativen Interaktionsspiralen zu identifizieren und sprecht offen darüber.
Beispiel: „Ich glaube, wir stecken gerade wieder in dieser Negativspirale fest. Lass uns da wieder rausgehen. Ich meine es eigentlich doch gut mit dir und ich glaube, dass du es auch gut mit mir meinst. Lass uns aufhören zu kämpfen/einander zu ignorieren/… .” - Nehmt professionelle Hilfe in Anspruch.
Eine Paarberatung bzw. Paartherapie kann euch helfen, wenn eure negative Interaktionsspirale bereits zu viel Fahrt aufgenommen hat und ihr es selbst nicht mehr herausschafft. Für viele Paare verhindert eine Paarberatung erfolgreich in dieser herausfordernden Zeit, einander nicht auch noch zu verlieren.
Kennst du solche Dynamiken auch aus deiner Beziehung? Wie gehst du damit um? Schreibe mir gerne dazu in die Kommentare.